LDN

Mittwoch, 12. November 2014

It's Poppy time!

Wer schon mal im Herbst in London war, kennt sie bestimmt: Poppies.

Sie sind überall.
Und ich meine wirklich überall.

Ich gebe zu, als ich sie das erste Mal sah, wusste ich überhaupt nicht, was das sein soll und es hat ein paar Wochen gedauert, bis es mir dämmerte. Erkennt ihr, was es ist (die Übersetzung mal beiseite)?

Eine Mohnblüte. Offiziell wird sie Remembrance Poppy genannt und erinnert bereits seit 1921 an gefallene Soldaten, besonders des Ersten Weltkrieges. Jedes Jahr im Oktober und November findet der Poppy Appeal statt, eine Spendenaktion der Royal British Legion (Kriegsveteranen-Organisation). 2013 kamen darüber 39 Mio. £ zusammen! Der wohl wichtigste und sichtbarste Teil dieser Aktion ist der Verkauf (einen festen Preis gibt es nicht; man spendet, was man geben möchte) von kleinen Mohnansteckern, die man sich dann an die Jacke pinnt und so seine Unterstützung für Soldaten und Veteranen zeigt – jedes Jahr fertigt die RBL über 30 Millionen davon in ihrer Poppy Factory in Richmond an! Eine Mohnblüte ist es deshalb, weil sie an das Blut erinnert, das auf den Schlachtfeldern des Ersten Weltkrieges vergossen wurde, inspiriert von dem Gedicht In Flanders Fields von John McCrae, dessen erste Strophe lautet:
In Flanders fields the poppies blow
Between the crosses, row on row,
That mark our place; and in the sky
The larks, still bravely singing, fly
Scarce heard amid the guns below.
Auf Flanderns Feldern blüht der Mohn
Zwischen den Kreuzen, Reihe um Reihe,
Die unseren Platz markieren; und am Himmel
Fliegen die Lerchen noch immer tapfer singend
Unten zwischen den Kanonen kaum gehört.
(Übersetzung von Wikipedia gemopst)
Die "einfachen" Poppies sehen so aus, wie der kleine Junge sie ganz oben an der Jacke trägt, aber es gibt sie in allen Formen und Größen, gerne auch selbstgehäkelt oder mit Edelsteinen aufgehübscht.

Dieses Jahr jährt sich der Ausbruch des Ersten Weltkrieges (hier auch ehrfürchtig The Great War genannt) bekanntlich zum 100. Mal und in diesem Rahmen gibt es hier aktuell nicht nur etliche Veranstaltungen und TV-Sondersendungen, sondern auch eine große Kunstinstallation, die am heutigen Armistice Day (Tag des Waffenstillstandes) am 11. November ihren Höhepunkt fand. Von der habt ihr in Deutschland bestimmt schon mal gehört.


Die Installation am Tower of London heißt Blood Swept Lands and Seas of Red (dieser Name entstammt ebenfalls einem Kriegsgedicht) und wurde von dem britischen Keramikkünstler Paul Cummins erdacht. Jede einzelne wurde von Hand gefertigt, wobei Techniken aus der Zeit des Ersten Weltkrieges zum Einsatz kamen. Hier seht ihr, wie die Poppies entstanden:


Das Mohnblumenfeld aus Keramikblüten "wuchs" vom 17. Juli bis 11. November; die letzte Poppy pflanzte gestern ein 13-jähriger Kadett. Größtenteils wurden sie von Freiwilligen aufgestellt:



Insgesamt sind es 888.246 Poppies, die im Laufe der Monate Stück für Stück gepflanzt wurden. Jede symbolisiert einen gefallenen Soldaten der britischen und Kolonialstreitkräfte (die Zahl ist natürlich nur eine offizielle Schätzung). Sie stehen rings um den Tower und scheinen aus dem "Weeping Window" (weinenden Fenster) zu strömen. 


Man konnte die Poppies zu je 25 £ kaufen – die Einnahmen kommen verschiedenen Kriegsveteranen-Wohltätigkeitsorganisationen zugute. Nach dem Abbau der Installation sollen die Spender ihre eigene Poppy zugesandt kriegen.



Wie man sehen kann, ist die Kunstinstallation ein absoluter Publikumsmagnet. Seit ihrer Enthüllung am 5. August haben sie fast 5 Millionen Besucher gesehen! (Allerdings weiß ich nicht, wie diese Zahl ermittelt wurde, denn die Installation ist frei zugänglich.) Zusätzlich wurden später Flutlichter aufgestellt, damit man das Blumenmeer auch nach Einbruch der Dunkelheit noch besichtigen kann.


Ich habe mir das Spektakel vor einigen Wochen mal angesehen (an einem Samstag, wie dumm von mir!) und auch wenn es unerträglich rammelig war, ist das rote Blütenmeer doch sehr beeindruckend und ein reizendes und erschütterndes Mahnmal zugleich.


Seit 12. November werden die Poppies wieder Stück für Stück von Freiwilligen abgebaut. In den Tagen zuvor gab es eine euphorische Debatte darüber, die Installation aufgrund ihrer Beliebtheit zu verlängern, aber es scheint, als wäre das nicht der Fall. Ein Teil der Poppies wird aber noch durch das Vereinigte Königreich touren und dann anschließend im hiesigen Imperial War Museum ein neues Zuhause finden.




Als ich die Poppies in meinem ersten Jahr hier zum ersten Mal sah, waren sie mir sehr suspekt ("Bah, Kriegsverherrlicher!"), aber ich muss sagen, dass ich mich mittlerweile an den Anblick gewöhnt habe. Vor allem als Deutscher hat man ja doch ein ganz anderes Verhältnis zum Krieg und ist eher zurückhaltend und zynisch. Das ist hier ganz anders – die Briten haben ja auch noch nie einen Krieg verloren. Während man in Deutschland die Nase über jeden rümpft, der freiwillig im Kampf seinen Kopf hinhält ("Selber Schuld!"), hält man die Streitkräfte hier in allen Ehren. Das finde ich zwar immer noch merkwürdig und kann es schwer nachvollziehen, aber da leider kein Bösewicht (die scheinen im Jahr 2014 ja aus allen Löchern zu kriechen) gewillt ist, Konflikte ganz modern ohne Tod und Vernichtung zu lösen, bin ich schon ein kleines bisschen froh, dass sich doch noch Leute finden, die einen wenigstens in falscher Sicherheit wiegen können.

Auf der anderen Seite werden auch viele Stimmen laut, die den "Wettlauf" um die erste Poppy des Jahres kritisieren. Ursprünglich wurde sie nur am 11. November getragen, heute tauchen die ersten schon Mitte Oktober auf. Vor allem Personen des öffentlichen Lebens sind quasi dazu verpflichtet, sich eine Blüte anzustecken, um bloß nicht als unpatriotisch zu gelten. Genauso schlimm: Leute, die nur der Mode wegen oder weil sie gut dastehen wollen eine Poppy tragen. Gar nicht so einfach, so ein Anstecker! 

Wer die Idee einer Wohltätigkeitsblume am Revers trotzdem nett findet, kann im März für einen Osterglocken-Anstecker spenden, die die Marie Curie Cancer Care im Rahmen ihres Great Daffodil Appeal verteilt. Diese Stiftung setzt sich seit 1948 für todkranke Krebspatienten ein, was ja mindestens genauso ehrenwert ist.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen