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Montag, 31. August 2015

Wandern mit anderen

Ich zucke zusammen. Die gespenstische Stille wird jäh zerrissen, als wenige Meter neben mir ein Fasanenmännchen mit einem empörten Schrei aus dem Unterholz stiebt. Ich blicke ihm zu, wie es keifend und mit einiger Mühe über die Baumwipfel davonflattert. Dann wieder Stille. Kein gutes Zeichen. Stille im Wald klingt nach Tod. Verdammt, wo bin ich hier? Und wie bin ich nur hineingeraten? Tut so ein Gewehrschuss eigentlich weh? Plötzlich Stimmen. Oh nein, jetzt werden sie mich verhaften!

Als Strohwitwe hat man ja allerhand freie Wochenenden. Und weil einem im Großstadtmoloch öfter mal die Decke auf den Kopf fällt, hilft nur, aufs Land zu fahren und ein bisschen durch die Botanik zu wandern. Am 11. Januar, als der Neujahrsblues frisch und das Wetter unbeständig war, entschloss ich mich, eine Wanderung ganz im Alleingang zu wagen. Ich wohne im Südosten Londons, sodass es immer eine Weltreise über das Stadtzentrum ist, wenn man Richtung Norden rausfahren will. Das dauerte mir zu lange, ich wollte ausschlafen, also musste es eine Wanderung in Südengland werden. Gesagt getan, mein schlaues Wanderbüchlein spuckte mir eine Strecke aus, bei der ich gleich im nächsten Stadtteil Lewisham in den Zug steigen könnte. Die 13,1 Kilometer lange Wanderung ist gespickt mit den Hügeln, Feldern und Wäldern der North Downs und schien mir der perfekte Jahreauftakt. Die North Downs sind ein Höhenzug, zu dem auch die berühmten Kreidefelsformationen der englischen Südküste um Dover gehören.

Ich muss mir mal auf die Schulter klopfen, denn bei der Recherche habe ich mich selbst übertroffen. Die Strecke, die mich von Snodland nach Sole Street führen sollte, ist kein Rundweg, sodass ich den Transport drumherum planen musste. Von Lewisham würde ich mit einmal Umsteigen nach Snodland kommen, aber auf dem Rückweg müsste ich von Sole Street noch in die nächstgrößere Stadt Rochester fahren, über den Fluss Medway in den benachbarten Stadtteil Strood laufen und dort den Zug zurück nach Lewisham nehmen. Timing war alles, sonst würde ich eine Stunde auf den nächsten Zug warten müssen. Bewaffnet mit Notizzetteln voller Zugzeiten und Wegberechnungen, einem vollgeladenen Handy und der Wegbeschreibung auf dem Kindle war ich bestens gerüstet und frohen Mutes. Sogar das Wetter spielte mit – es war kalt, aber sonnig – was konnte da noch schiefgehen?

Ich startete also in Snodland, einer Kleinstadt in Kent. Ich muss bei dem Namen immer kichern, denn "snot" bedeutet auf gut Deutsch "Rotz". Damit hat Snodland freilich nichts zu tun, vielmehr gab es früher wohl einen Mann mit Namen Snodda, nach dem der Ort benannt wurde.



Es ging relativ schnell raus aus Snodland, vorbei an einem Sportplatz und einem Friedhof, immer die sanften Hügel der North Downs hinauf, an kleinen Waldstücken vorbei. Frische Luft und Einsamkeit, das mag ich am Wandern besonders. Dumm nur, wenn es plötzlich zu einsam wird und man sich nach nicht einmal einer Stunde komplett verlaufen glaubt. Plötzlich sieht der Wald gar nicht mehr freundlich und alt aus, sondern zwielichtig und unheilvoll. Und was war das für ein Geräusch dort drüben?


Ich hatte mich völlig verfranst. In meiner Wegbeschreibung ging es um nur zwei Sätze, die mich durcheinander brachten. Ja, eine Lichtung da vorne links, die sehe ich, und dann soll man ... Moment! Da rechts lang? Wo ganz groß "KEEP OUT" und "PRIVATE PROPERTY" dran steht? Nein, das kann nicht sein. Also wieder ganz zurück zur Lichtung. Da führt ein Weg durchs Gestrüpp hoch, aber die Wegbeschreibung liest sich ganz anders. Also doch den Privatweg entlang? Wieso nicht, was soll bis auf einen Zaun schon passieren. Ich nahm also den Privatweg, der mich auf eine neue Lichtung führte. Es war sonnig und warm, ich fing an zu schwitzen, aber die kreischende Stille war eigenartig. Ich lief einen Anstieg hinauf. Überall standen vereinzelt Schilder mit Werbung, ich dachte erst an eine Immobilienfirma, die Grundstücke verkauft – tolle Möglichkeiten, einmalige Chance, Geld gut investiert – dann fand ich die erste Munitionspatrone. Dazu überall Vogelfedern. Verdammt, ich war auf einem Jagdgelände!

Ich sah zu, dass ich wegkam. Leider war das Gelände ringsum eingezäunt und Wege gab es auch nicht. Also wieder die Lichtung hinunter Richtung Tor. Dazu ständig die Furcht, dass sich irgendwo ein Schuss löst, weil ich mit einem Fasan verwechselt worden war. Schnell, schnell, schnell, weg hier! Plötzlich ein Fasanenschrei direkt neben mir. Oh nein, kommen jetzt die Jäger? Schaffe ich es noch zum Ausgang? Oh je, wenn ich hier erwischt werde, wird das sicher teuer (oder schmerzhaft). Dann vernahm ich Stimmen und machte mich auf das Schlimmste gefasst.



Zeitgleich mit den Stimmen traf ich wieder auf der Hauptlichtung ein. Die Stimmen, drei an der Zahl, trugen bunte Rucksäcke und verschwanden in einer Lücke im Gestrüpp auf einen Hügel. Puh, keine aufgebrachten Jäger, sondern plaudernde Wanderer! Und es wurden immer mehr. Na, dachte ich, die müssen ja wissen, wo es langgeht, und schloss mich der Gruppe an. Oben auf dem Hügel angekommen machte die Gruppe – mittlerweile auf über 20 Personen angewachsen – eine Pause. Ich setzte mich schüchtern dazu und wurde prompt zu einem Smalltalk eingeladen. Es stellte sich heraus, dass die ältere Frau, mit der ich zusammen den Anstieg hinaufgeschnauft war, ebenfalls Deutsche ist. Und dass ich auf eine Wandergruppe gestoßen war, die genau dasselbe Ziel hatte wie ich!


In Großbritannien und speziell London gibt es etliche Wandergruppen. Man trifft sich völlig ungezwungen zu Tagesausflügen und sogar mehrtätigen Wanderungen unter der Leitung eines freiwilligen Führers und bestreitet die Strecke zusammen. Oft kann man direkt Mitglied werden und einen Monats- bzw. Jahresbeitrag zahlen, um Newsletter zu bekommen und die Idee dahinter zu unterstützen. Man kann aber auch als Außenstehender mitfahren, denn Zugtickets (und das optionale Abschiedsessen im Pub, das eigentlich immer dazu gehört) bezahlt sowieso jeder selbst. Es gibt mehrere Internetseiten, auf denen veröffentlicht wird, wann welche Gruppe welche Strecke wandert, und dann kann man einfach eine Mail hinschreiben und sich anschließen. Auf eine solche Gruppe war ich just gestoßen.


Im 19. Jahrhundert wurde das Wandern oder Spazierengehen auf dem Land (engl. rambling) zu einem populären Zeitvertreib, um der Verschmutzung und dem Alltagsstress in den Städten zu entkommen. Leider wurde das immer schwieriger, da mehr und mehr Großgrundbesitzer ihr Land einzäunten und unzugänglich machten. Aus diesem Grund entstanden Wanderervereine, die für den freien Zugang zur Natur kämpften. 1935 schlossen sich die Vereine als Ramblers’ Association zusammen, die heute über 110.000 Mitglieder in mehr als 500 lokalen Gruppen im ganzen Land hat. Erst im Jahr 2000 wurde das Engagement der Vereine belohnt und Berge, Moore und Heideland wurden öffentlich zugänglich gemacht.
Die Aufgaben der Ramblers (das Association wurde vor einigen Jahren abgelegt) hat sich im Laufe der 80-jährigen Geschichte gewandelt. Was als “Right to roam”*-Bewegung begann, ist heute ein gemeinnütziger Verein, der das Wandern bewirbt, die Pfade instand hält, die Zugänglichkeit des Landes für Wanderer verbessert, sich um Naturschutz kümmert und die Öffentlichkeit informiert. Auch das Mitgliederprofil hat sich sehr verändert, von einst gut betuchten weißen Rentnern hin zu multikulturellen jungen Menschen, die Wandern als urbanes Abenteuer begreifen.

Das passt doch wie die Faust aufs Auge. Ich schloss mich den Ramblers an, damit ich mich nicht noch einmal verlaufe. Man hat gleich so viel mehr davon, wenn man nicht ständig auf die Wegbeschreibung schauen muss. Und nette Gespräche gibt es noch dazu, auch wenn es nicht über Smalltalk hinausgeht. So wanderte ich ganz alleine los und kam in einer großen Gruppe an. Den Pubbesuch habe ich zwar sausen lassen, aber es war trotzdem ein schöner Tag mit interessanten Gesprächen und neuen Erkenntnissen.











*Right to roam: Das “Recht auf Herumstromern” bedeutet, dass man die Freiheit hat, auf dem Land abseits der Wege zu laufen und überall hinzugelangen.

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